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Stress bewältigen mit Achtsamkeit - Ein Interview mit Dr. Linda Lehrhaupt

Das Standardwerk für den MBSR-Unterricht „Stress bewältigen mit Achtsamkeit“ von Linda Lehrhaupt und Petra Meibert ist im Frühjahr dieses Jahres in Amerika unter dem Titel „Mindfulness-Based Stress Reduction: The MBSR Program for Enhancing Health and Vitality“ erschienen. Anlässlich seiner Veröffentlichung führte Monique Muhlenkamp vom Verlag New World Library ein Interview mit Linda

Der Begriff „Achtsamkeit“ begegnet uns mittlerweile ja fast überall. Weshalb ist die Achtsamkeit in unserem Kulturkreis so beliebt geworden?

Ich glaube, dass das große Interesse an Achtsamkeit einer tiefen menschlichen Sehnsucht nach Frieden und Harmonie entspringt. Es ist die gleiche Sehnsucht, welche die Menschen zur Meditation und zu meditativen Praktiken führt. Da der Stresslevel in der modernen Gesellschaft mittlerweile epidemische Ausmaße erreicht hat und die Wissenschaft belegt, wie viele Krankheiten und seelischen Probleme durch diesen hohen Stresslevel verursacht werden oder direkt damit zusammenhängen, suchen immer mehr Menschen nach Möglichkeiten, damit wirksam umzugehen.

Wir wissen heute aus der Psychologie, Medizin und Pädagogik, dass wirkliches Lernen und Veränderung nur aufgrund von Erfahrung stattfindet. Genau das ermöglicht die Achtsamkeitspraxis. Denn sie basiert auf 1) klarem Erkennen 2) der Kultivierung von Verantwortung für sich selbst und andere und 3) ist eine sehr praktische Methode der Selbst-Beobachtung, die genau das begünstigt.

Ich persönlich sehe überhaupt kein Problem darin, dass die Achtsamkeit so beliebt geworden ist. Was ich darin erkenne, ist der Wunsch der Menschen, Weisheit und Mitgefühl mit sich selbst und anderen zu entwickeln. Die Achtsamkeitsbewegung verfügt hierfür über viele fundierte und auch manche nicht so fundierte Entwicklungen, doch auch letztere sind kein Grund dafür, sich von der Achtsamkeit abzuwenden, sondern ganz im Gegenteil: Ich sehe dies als eine Aufforderung an uns alle, die wir Achtsamkeit unterrichten und praktizieren, ernsthaft und mit großer Sorgfalt unsere Fähigkeiten und Erfahrungen einzusetzen.

Weshalb kommen die Menschen zu Kursen und Trainingsprogrammen, die ein intensives Achtsamkeitstraining zur Grundlage haben?

Viele Menschen, die sich für MBSR oder andere Achtsamkeitskurse anmelden, leiden in der einen oder anderen Form. Manche haben eine Krankheit, Herzerkrankungen, Krebs oder MS, andere haben chronische Schmerzen. Manche leiden unter körperlichen Symptomen wie Kopfschmerzen, Herzjagen etc, die durch Stress verstärkt werden. Manche befinden sich in einer Lebenskrise, ausgelöst durch den Tod eines nahen Angehörigen oder sie haben ihren Arbeitsplatz verloren. Andere verspüren ein Gefühl der Leere und fragen sich, was der Sinn ihres Lebens ist. Und wieder andere möchten die Achtsamkeit intensiv erforschen, weil sie sich nach einem erfüllten Leben sehnen und noch nicht so recht wissen, wie und wo sie damit anfangen sollen.

Die Menschen haben ein Gespür dafür, dass die Achtsamkeitspraxis ihnen den Schlüssel dafür geben kann, schädliche Gewohnheiten zu verändern und zu lernen, mit schwierigen Situationen umzugehen. Viele Menschen verspüren auch den Wunsch, das Leben wieder ganz direkt und unmittelbar zu erleben und sich nicht länger durch ihre Probleme davon abhalten zu lassen. „There is more right with you then wrong with you, even when there is something wrong with you”, sagte deshalb Jon Kabat-Zinn, der Begründer des MBSR-Trainings. Die Menschen möchten lernen, ihre innere Stärke so zu aktivieren, dass ihnen ein erfülltes Leben offensteht. Genau hierfür zeigt eine achtsamkeitsbasierte Methode wie das MBSR Wege auf.

Wie kann Achtsamkeit konkret bei Stress helfen?

Achtsamkeit macht es uns möglich, Stressfaktoren und unsere Reaktion darauf wahrzunehmen. Wir lernen etwa, eine kleine Achtsamkeitspause in Zeiten der Aktivität einzulegen, um dadurch bewusste Entscheidungen treffen zu können und nicht einfach auf Autopilot zu reagieren. Unsere Wahrnehmung erweitert sich, was per se schon heilsam ist. Mit anderen Worten: Indem wir erkennen, dass wir nicht achtsam sind, praktizieren wir bereits Achtsamkeit.

Wir können dieses Prinzip auf unseren Umgang mit Stress anwenden. Wenn jemand sagt: „Ich bin gestresst“, und dann innehält, um sich der Körperempfindungen und des Atems bewusst zu werden, hat dieser Mensch bereits die automatische Reaktion unterbrochen und den ersten Schritt getan, auf die Situation in einer anderen Weise zu reagieren.

Wenn wir erst einmal diese ersten Schritte der Achtsamkeit verinnerlicht haben, können wir die Fähigkeit des Beobachtens und der Reflexion weiterentwickeln und verfeinern. Durch Aufmerksamkeit und nicht-wertende Beobachtung können wir unsere Handlungen gedanklich und emotional unterstützen, um mit schwierigen Situationen besser umzugehen. Wir fällen dann unsere Entscheidungen nicht auf Autopilot, also unbewusst und gewohnheitsmäßig, sondern sind kreativ und finden neue Lösungen.

Wie kann Achtsamkeit die Resilienz und Widerstandskraft stärken?

Ich verstehe unter Resilienz die Fähigkeit, in einer lebensbejahenden Art und Weise mit Schwierigkeiten umzugehen. Das heißt, diesen Schwierigkeiten in einer Haltung zu begegnen, die nicht von Kummer, Resignation und der Verdrängung von Gefühlen gekennzeichnet ist. Was nicht heißen soll, dass dies anfangs nicht eine mögliche Reaktion auf Schwierigkeiten sein darf. Resiliente Menschen finden dann jedoch zu einer inneren Einstellung, die Entwicklung und Wachstum ermöglicht, eine Haltung der Zuversicht, die dazu verhilft, das Leben bewusster wahrzunehmen.

In der Achtsamkeitspraxis lernen wir zu wahrzunehmen, wenn wir in einer bestimmten Art und Weise des Denkens gefangen sind. Wir erkennen dann mitunter auch, dass es sich dabei um eine Reaktion handelt, die wir schon früh im Leben gelernt haben und die bestimmte Gedanken in uns auslöst, mit denen wir gewohnheitsmäßig auf bestimmte Herausforderungen reagieren. Meist reflektieren wir diese Gedanken gar nicht, so dass wir sie auch nicht verändern oder durch neue ersetzen könnten.
Die Achtsamkeit ermöglicht es, uns dieser Gedankenmuster bewusst zu werden. Und damit vermindern wir deren Macht über uns. Dadurch eröffnen wir uns die Möglichkeit, neue Perspektiven einzunehmen und unseren Handlungsspielraum zu erweitern. Und diese Veränderung der Perspektive trägt dazu bei, die Resilienz zu stärken, denn wir bleiben nicht länger in einer lähmenden Geisteshaltung festgefahren.

Als junge Tai-Chi-Lehrerin kam einmal ein Mann zu mir, um Tai Chi zu lernen. Er war ein Contergan-Opfer und deshalb ohne Arme geboren. Sein erklärter Wunsch war es, seine Fähigkeit zur Balance zu stärken. Und er glaubte fest daran, dass ihm die Körperübungen des Tai Chi dabei helfen würden. Nachdem er alle Formen des Tai Chi durchgearbeitet hatte, erhielt ich eine Woche nach dem letzten Kurs eine Postkarte von ihm, die ihn auf Ski in den Alpen zeigte. „Dank dir und Tai Chi ist mir dies möglich“, schrieb er. Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Achtsamkeit die Resilienz unterstützen kann.

Die Achtsamkeit lehrt uns, unsere Probleme wahrzunehmen. Doch was, wenn ich schwierige Dinge gar nicht wahrnehmen möchte?

Es ist menschlich, sich von unangenehmen Gefühlen und Schwierigkeiten fernhalten zu wollen. Und wenn wir in der Achtsamkeitspraxis davon sprechen, schwierige Gefühle achtsam wahrzunehmen, dann meinen wir damit nicht, sich von schwierigen Gefühlen übermannen zu lassen. Wir fordern auch nicht dazu auf, sich an schmerzvolle Dinge bewusst zu erinnern. Worum es geht, ist, sich den Gefühlen auf eine andere Weise zu nähern als wir es normalerweise tun. In der Achtsamkeitsmeditation üben wir, unsere gegenwärtigen Gedanken und Gefühle zu beobachten, ohne uns in ihnen zu verfangen. Eine gute Übung hierfür ist es, sich die eigenen Körperempfindungen bewusst zu machen, die durch Emotionen hervorgerufen werden.

Am Beispiel der Traurigkeit würde dies bedeuten: Wir nehmen alle Körpereindrücke bewusst wahr, die von diesem Gefühl ausgelöst werden: die Enge im Brustbereich, die Verkrampfung im Kieferbereich, die Tränen in den Augen. Indem wir diese körperlichen Empfindungen ganz bewusst wahrnehmen, geben wir dem Gefühl seinen Raum und verhindern zugleich, dass wir uns in diesem eingesperrt fühlen.
Gefühle in dieser Art und Weise wahrzunehmen ist wie Wellen zu spüren, die durch einen hindurchlaufen. Wir müssen sie dann nicht länger verdrängen oder unterdrücken, wir müssen uns aber auch nicht mit ihnen identifizieren, sondern sie einfach nur erleben.

Die Achtsamkeitspraxis erfordert schon eine gewisse Verpflichtung und die Bereitschaft, jeden Tag zu üben. Tun die Leute das tatsächlich?

Wer an einem MBSR-Kurs teilnimmt, sollte zuhause jeden Tag bis zu einer Stunde Zeit für die Übung einplanen. Dazu gehören geführte Meditationen, Yoga, Body Scan, Sitz- und Gehmeditationen. Daneben auch informelle Übungen wie das Erforschen bestimmter Themen und das Reflektieren durch Tagebucheinträge. Häufig fragen Kursteilnehmer bereits im Vorfeld: „Aber was soll ich tun, wenn etwas auf der Arbeit oder in meinem Privatleben geschieht, sodass ich an diesem Tag nicht üben kann?“ Es gibt gute Gründe, dies zu fragen. Und einer davon ist, sich bereits im Vorfeld einen Fluchtweg zu sichern, bevor man den Raum überhaupt betreten hat. Bevor man überhaupt eingecheckt hat, checkt man innerlich schon wieder aus.

Niemand von uns weiß, was die Zukunft bringt. Niemand von uns kann daher sagen, was die kommende Woche bringt und was uns vom Üben abhalten könnte. Die Achtsamkeitspraxis ermutigt uns dazu, mit all diesen Gedanken und Gefühlen, die auftauchen, in Berührung zu kommen, um unsere Motivation so klar wie möglich zu erkennen. Wir arbeiten so offen wie möglich mit allem, was auftaucht. In dem Kurs sprechen wir auch darüber, wie wir die Praxis in den Zeiten aufrechterhalten können, wenn wir sie formell nicht ausüben können. Und wir ermutigen uns gegenseitig darin, so achtsam wie möglich zu erforschen, wann wir zu hart zu uns selbst sind und wann wir uns selbst sabotieren. Immer geht es in der Achtsamkeitspraxis darum, sich mit dem auseinanderzusetzen, was auftaucht. Und in den Zeiten, in denen die formale Praxis wie Meditation oder Body Scan einfach nicht möglich ist, ermutigen wir die Kursteilnehmer zur informellen Achtsamkeitspraxis.

Wie kann uns die Achtsamkeitspraxis darin unterstützen, zu einem erfüllten Leben zu finden?

Diese Frage wird von Menschen, die an der Achtsamkeitspraxis interessiert sind, oft gestellt. Sie erinnert mich an die Lehrgeschichte, an der ich kürzlich mit einer Zenschülerin gearbeitet habe. Sie handelt von einer jungen Frau, die ihre koreanische Zen-Lehrerin Manseong Sunim fragte: „Wie kann ich den Weg kultivieren?“ Ihre Lehrerin sagte daraufhin nur streng: „Keine Kultivierung!“ Die Schülerin verstummte erschrocken und fragte schließlich: „Doch wie kann ich mich befreien?“ Und ihre Lehrerin fragte: „Wer bindet dich denn?“

Was meint Manseong Sunim mit dieser Antwort: “Keine Kultivierung”? Sie hätte ebenso gut fragen können: „Was glaubst du denn, was fehlt? Was meinst du zu brauchen, was du nicht schon hast?“

Die Frage der Lehrerin ist zugleich die Antwort. Wenn wir nach dem suchen, was uns fehlt, dann sehen wir uns schon bald von der Fülle dessen umgeben, was wir haben. Diese Fülle besteht aus den vielen kleinen Dingen, die wir die meiste Zeit als selbstverständlich hinnehmen. Wenn wir uns dafür entscheiden, genauer hinzusehen, dann können wir all die Dinge erst erkennen, die unser Leben reich und erfüllt machen: die frühen Blumen nach einem langen Winter, der Vollmond in einer wolkenlosen Nacht, die Katze und der Hund, die zusammen auf dem Sofa gekuschelt eingeschlafen sind.

Unser Leben ist voll mit Leben. Wir müssen uns nur dafür entscheiden, die Scheuklappen abzunehmen, unsere Brillengläser zu putzen, um eine klare Sicht auf all die Dinge zu erhalten, mit denen uns das Leben überraschen will. Das Leben wird uns dann finden. Die Fülle, nach der wir suchen, ist immer schon da, auch wenn wir uns schwer damit tun, sie zu sehen. Hör‘ auf zu suchen und die Fülle des Lebens zeigt sich dir von selbst!


Übersetzt von Christa Spannbauer


Susanne Schneider, Ihre Ansprechpartnerin beim Institut für Achtsamkeit, hilft gerne weiter:

Tel: +49-172-2186681

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