10.01.2017 - „Ein Achtsamkeitskurs ist kein Ticket ins Paradies“: Für die aktuelle Ausgabe „stern GESUND LEBEN“ gab Dr. Linda Lehrhaupt ein Interview, in dem es um Missverständnisse rund um das Thema Achtsamkeit geht. Wir veröffentlichen das Gespräch.
Achtsam fühlen, achtsam arbeiten, achtsam gehen, achtsam essen: Aus der grundseriösen Methode zur Lebensbewältigung ist ein Hype mit überspannten Erwartungen geworden.
Interview: Birgit Schönberger
Achtsamkeit gilt in fast allen Lebensbereichen inzwischen als Allheilmittel zur Stärkung von Stresskompetenz und Gelassenheit. Die Heilsversprechen sind enorm. Ist das noch im Sinne der Idee?
Lehrhaupt: Sicher wird von manchen Trainern, die mal einen Wochenendkurs absolviert haben, das Blaue vom Himmel versprochen, und das hat mit Achtsamkeit nur noch am Rande zu tun. Auf der anderen Seite kommen die Menschen mit großen Erwartungen. Sie hoffen, in einem Achtsamkeitskurs etwas zu finden, das ihnen Heilung bringt oder sie zumindest besser auf die Stürme des Lebens vorbereitet. Zu erwarten, dass sich sämtliche Probleme wegatmen lassen, ist illusorisch, auch wenn der Wunsch durchaus verständlich ist. Wenn wir leiden, sind wir alle ein bisschen naiv, wir verschließen die Augen vor der Realität und suchen Erlösung, so als gäbe es sie fertig im Supermarkt. Ich halte es für ein normales Bedürfnis, Dinge, die unangenehm sind, zu beschönigen und wegzuschauen, sobald es schwierig wird.
Oft wird Achtsamkeit als Entspannungsmethode verstanden, bei der man so richtig schön runterkommt. Ein Missverständnis?
Achtsamkeit ist definitiv kein Entspannungsprogramm. Im Gegenteil. In einem MBSR-Kurs geht es darum, den Geist zu trainieren und die achtsame Wahrnehmung zu schulen, und das bedeutet, nicht nur das Angenehme und Schöne wahrzunehmen, sondern auch das Schmerzhafte und Unangenehme. Achtsamkeit bedeutet, ganz im gegenwärtigen Moment zu sein, möglichst wach mit allem, was auftaucht. Dieser Augenblick kann voller Leiden und Schmerzen oder voller Freude und Dankbarkeit sein. Achtsamkeit bedeutet, das Leben so anzunehmen, wie es in diesem Moment ist. Vielleicht entspannt man sich, während man sich erlaubt, alles wahrzunehmen. Das ist ein möglicher Nebeneffekt, aber kein vernünftig ausgebildeter Achtsamkeitslehrer verspricht Entspannung. Und schon gar nicht an einem Wochenende.
Sie sprechen von einer grundlegend anderen inneren Haltung. Reicht ein Kurs, um sie zu lernen?
Wir machen unseren Teilnehmern am Ende jedes Kurses klar, dass es jetzt erst richtig losgeht. Achtsamkeit ist eine Fähigkeit, die durch langes Training immer wieder geschult wird. Wir verfolgen dabei kein konkretes Ziel, sondern es geht allein darum, den gegenwärtigen Moment freundlich und ohne Bewertung wahrzunehmen. Das ist für viele anfangs sehr schwierig. Denn in der Regel sind wir alles andere als freundlich mit uns in unserer westlichen Kultur, in der Schwarz-Weiß-Denken vorherrscht und wir immer zu wissen glauben, was richtig und falsch ist.
Sie betonen, dass es ein langer Prozess mit Hürden und Rückschlägen ist. Gleichzeitig wird Achtsamkeit als Schlüssel zum Glück propagiert.
Ein Achtsamkeitskurs ist kein Ticket ins Paradies. Es ist eher ein Kurs, in dem Menschen lernen, nicht vor ihren Schwierigkeiten wegzulaufen, sondern ihnen ruhig und mutig zu begegnen.
Zu Beginn eines Kurses sagen Teilnehmer oft, dass sie entspannen, ihren Körper spüren, mit ihrem launischen Partner, ihren anstrengenden Kindern oder ihrem fordernden Chef besser klarkommen wollen. Und es ist ja auch nur allzu menschlich, darauf zu hoffen, dass die unangenehmen Dinge wie Schmerz, Stress und Konflikte durch die Achtsamkeitspraxis auf wundersame Weise verschwinden werden. Das ist aber letztlich nicht das Ziel der Übung. Das Achtsamkeitstraining bietet vielmehr die Möglichkeit, auf eine realistische und freundliche Weise mit Freude und mit Schmerz umgehen zu lernen. Der Originaltitel von Jon Kabat-Zinns Grundlagenbuch zur Achtsamkeit lautete nicht umsonst „Full Catastrophe Living“.
Was können wir im besten Fall durch Achtsamkeit gewinnen?
Mit Achtsamkeit lösen sich nicht alle Probleme in Wohlgefallen auf, aber die Wahrnehmung kann sich verändern und dadurch langfristig auch das Handeln. Für viele ist die wichtigste Lektion zu erkennen, wie hart und unbarmherzig sie bisher mit sich selbst und anderen ins Gericht gegangen sind und wie gut es ihnen tut, freundlicher auf sich und andere zu schauen. Das bedeutet nicht, dass sie nun bequem werden oder alles akzeptieren nach dem Motto „anything goes“. Im Gegenteil: Sie lernen, mehr zu differenzieren, den Dingen ins Auge zu blicken, zu verstehen, was gerade passiert, und auf heilsame Weise mit ihren Gefühlen umzugehen.
Was meinen Sie mit heilsam?
Wenn wir lernen innezuhalten und präsent zu sein, haben wir die Chance, eine Entscheidung zu treffen, die uns vielleicht guttut. Wir alle verfügen über automatische Reaktionsmuster, die eine lange Vorgeschichte haben, in Sekundenschnelle ablaufen und uns wie ferngesteuert agieren lassen. Vielleicht haben wir die Gewohnheit, uns nach einem langen, anstrengenden Tag, an dem wir zu allem Überfluss auch noch eine niederschmetternde Nachricht bekommen haben, mit Essen vollzustopfen, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen oder zu viel Wein zu trinken. Danach fühlen wir uns kurzfristig erleichtert, aber langfristig ist dieses Verhalten selbstschädigend.
Die entscheidende Frage aus der Achtsamkeitsperspektive lautet: Was hilft mir, mich mit dem gegenwärtigen Moment zu verbinden? Was hilft mir, meinen Körper zu spüren und meine Gefühle wahrzunehmen? Wenn wir im Kontakt mit dem Moment sind, so wie er gerade ist und nicht wie wir ihn gern hätten, sind wir unseren Automatismen nicht mehr ausgeliefert. Wir entdecken, dass es zwischen Reiz und Reaktion ein kleines Zeitfenster gibt, in dem wir frei sind. Vielleicht nehmen wir einen tiefen Atemzug, machen einen Spaziergang, gehen in die Badewanne oder rufen eine gute Freundin an und finden eine Alternative zur unheilsamen Gewohnheit, sofort zum Kühlschrank zu laufen. So können wir eine unheilsame automatische Reaktion in eine heilsame bewusste Antwort verwandeln. Doch das geht eben nicht von heute auf morgen.
Hilft Achtsamkeit, das Leben besser zu bewältigen?
Menschen, die schwer erkranken, müssen sich manchmal von anderen anhören „Es ist zwar eine schlimme Krankheit, aber sie ist bestimmt zu etwas gut.“ Hat man gerade eine bedrohliche Diagnose bekommen, ist das das Allerletzte, das man hören möchte. Aber es kann durchaus sein, dass man zwei Jahre später sagt: Ich habe mein ganzes Leben verändert als Antwort auf die Krankheit. Ich lebe heute viel heilsamer und fühle mich gesünder, obwohl ich immer noch Krebs habe. Oder: Als ich die Kündigung bekam, war ich am Boden zerstört. Heute, drei Jahre später, sehe ich, dass es das Beste war, was mir passieren konnte. Ein solch fundamentaler Perspektivwechsel lässt das Leben in einem anderen Licht erscheinen. Aber das braucht Zeit und fortwährende Praxis. Das ist keine Einsicht, die sich mal eben über Nacht einstellt, ein neuer Umgang mit sich selbst entwickelt sich nur Schritt für Schritt.
Sie sprechen also von täglicher Übung?
Anfangs erhoffen sich vielleicht viele den schnellen Kick, aber dann merken sie, dass es darum geht, beharrlich dranzubleiben, Rückschläge mit Humor zu nehmen und einfach wieder von vorn anzufangen. Es gibt keine Abkürzung.
Der Weg ist so lang, wie er nun einmal ist. Es ist wie beim Fitnesstraining: Wenn man nicht regelmäßig hingeht oder gar ganz aufhört damit, verlieren die Muskeln Masse und Tonus, und wenn man nach einem MBSR-Kurs nicht mehr übt, baut sich die Fähigkeit wahrzunehmen ab. Fängt man wieder an zu üben, kann man ein bestimmtes Niveau auch wieder erreichen. Es ist kein Selbstläufer. Auch der Dalai Lama hatte in seinem Leben Höhen und Tiefen, er hat nur gelernt, die Wellen des Lebens zu reiten. Die Wellen sind immer da, manchmal sind sie klein und sanft, manchmal haben sie die Wucht eines Tsunami. Es geht nicht darum die Wellen loszuwerden, sondern auf ihnen zu surfen.
stern GESUND LEBEN Heft 1/2017
Interview: Birgit Schönberger
Susanne Schneider, Ihre Ansprechpartnerin beim Institut für Achtsamkeit, hilft gerne weiter:
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